Stärkung von Kindern inhaftierter Eltern in Hamburg: Landesfachstelle nimmt Arbeit auf

Von der Inhaftierung eines Elternteils – fast immer des Vaters – sind in Deutschland Schätzungen zufolge etwa 100.000 minderjährige Kinder betroffen. Ihnen drohen Ausgrenzung und Traumatisierung, psychische Probleme, die Verschlechterung der Lebensumstände und das Risiko, selbst straffällig zu werden. Hamburg will die Versorgungsstruktur für die betroffenen Kinder verbessern, indem die Vernetzung zwischen Justizvollzug und Jugendhilfe sowie die Familienorientierung im Justizvollzug weiterentwickelt werden.

Kinder können oft nicht begreifen, warum ein Elternteil inhaftiert wird – und dann nicht mehr Teil ihres Alltags ist und bei wichtigen Ereignissen wie Geburtstagen, Weihnachten oder Einschulung fehlt. Viele reagieren mit Verlustängsten, Misstrauen und Schuldgefühlen, werden aggressiv oder hyperaktiv, ihre schulischen Leistungen verschlechtern sich. Wut, Trauer und unterdrückte Gefühle können im schlimmsten Fall zu Depressionen oder Suizidalität führen. Untersuchungen zeigen, dass bei diesen Kindern das Risiko erhöht ist, später eine psychische Krankheit und/oder Suchtmittelabhängigkeit zu entwickeln.

Durch die Inhaftierung eines Elternteils (in Hamburg in etwa 96 Prozent der Fälle der Vater) sinkt oft auch das Einkommen der Familien. Ein Elternteil ist plötzlich alleinerziehend. Wenn Jungen die Rollenfunktion des abwesenden Vaters übernehmen, werden sie zu “kleinen Erwachsenen” – doch das sind sie nicht. Wird die Inhaftierung offengelegt, kann das zu Ausgrenzung in Schule, Kindergarten oder Nachbarschaft führen. Das Thema der Inhaftierung ist in der Gesellschaft überwiegend noch ein Tabu. Es bestehen viele Vorurteile – Isolierung und sozialer Rückzug können die Folgen sein.

Mit Unterstützung der Auridis Stiftung, der Sozialbehörde und der Behörde für Justiz und Verbraucherschutz sowie den Justizvollzugsanstalten hat der Hamburger Kinder- und Jugendhilfe e.V. eine stadtweite Strategie und das Konzept für eine Landesfachstelle für Kinder von Inhaftierten erstellt, die nach fünfmonatiger fachlicher Vorarbeit mittlerweile ihre Arbeit aufgenommen hat. Angestrebt ist ein langfristiger Prozess mit Maßnahmen, bei denen der Fokus vor allem auf die Kinder von Inhaftierten, ihre Entwicklung und gesellschaftliche Teilhabe gerichtet ist.

Diese Ziele wurden in den Projektplanungen erarbeitet:

  • Zwischen Justizvollzugsanstalten und Trägern der Kinder- und Jugendhilfe entstehen verbreitet Kooperationen
  • Kinder von Inhaftierten und ihre Eltern können unabhängig vom Wohnort bzw. dem Standort der Justizvollzugsanstalt auf geeignete Unterstützungsangebote zurückgreifen

Dafür wurden unter anderem diese Lösungsansätze erarbeitet:

  • Erstberatung von Inhaftierten und ihren Angehörigen zu den Themen Kontaktaufnahme zu Kindern und Familie, Elternrolle und weitere Unterstützungsangebote
  • Vernetzung der Angebote in Justizvollzug und Jugendhilfe, Schaffung neuer Eltern-Kind-Angebote im Vollzug und Angebote außerhalb des Vollzugs
  • Beratung, Sensibilisierung und Vernetzung der Fachkräfte aus Justizvollzug und Jugendhilfe und Erleichterung des Austauschs
  • Vernetzung mit den Fachkräften der Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe in Hamburg und Erstellung von kindgerechtem Informationsmaterial
  • mögliche Öffnung der Angebote der Jugendhilfe im Bezirk (z.B. Erziehungsberatungsstellen, Eltern-Kind-Zentren, Familienförderung) für Kinder und nicht-inhaftierte Elternteile.

Justizsenatorin Anna Gallina: “Wenn ein Elternteil inhaftiert ist, kann dies Kinder sehr stark belasten. Die Folgen können sich im Alltag der Kinder zeigen und auch den weiteren Lebensweg negativ beeinflussen. Durch eine stärkere Vernetzung der beteiligten Stellen und durch geeignete Maßnahmen wollen wir den Kindern mehr Unterstützung geben. Für den Justizvollzug geht es darum, die ganze Familie stärker in den Blick zu nehmen und gezielter auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen, um so gleichzeitig die Resozialisierung des inhaftierten Elternteils zu fördern.”

Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer: “Mit der Landesfachstelle stärken wir Kinder, die von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen sind, und nehmen ihre Entwicklung und gesellschaftliche Teilhabe in den Blick: Das Projekt soll frühestmöglich über die Angebote der Kinder- und Familienhilfe informieren, Verbindungen zwischen den Akteuren der Justiz und der Jugendhilfe herstellen und die Erziehungskompetenz im Sinne junger Menschen erhöhen. Denn Kinder inhaftierter Eltern leiden oftmals unter emotionalen, psychischen und sozialen Belastungen, einhergehend mit Stigmatisierung, Schamgefühl, Trennungsangst, Verlustgefühlen und Bildungsunterbrechungen. Durch gezielte Unterstützung soll diesen negativen Auswirkungen entgegenwirkt und die Resilienz der Kinder gestärkt werden.”

Marc von Krosigk, Geschäftsführer Auridis Stiftung: “Angst, Sorgen, Stigmatisierung – werden Eltern inhaftiert, hat dies auch Auswirkungen auf ihre Kinder. Untersuchungen zeigen, dass mehr als 2/3 der Kinder Inhaftierter über negative physische und psychische Folgen berichten. Wir freuen uns, dass durch die nun in Kooperation mit den beiden zuständigen Behörden sowie dem Hamburger Kinder- und Jugendhilfe e.V. gestartete Initiative die Bedürfnisse von Kindern Inhaftierter noch stärker in den Fokus gerückt werden. Hierfür wird die neue Landesfachstelle nicht nur von betroffenen Familien und ihren Kindern als Beratungsstelle genutzt werden können, sondern sie wird sich auch dafür einsetzen, die Zusammenarbeit zwischen Akteuren der Justiz und Jugendhilfe weiter auszubauen. Wir hoffen, dass durch das gemeinsame Handeln aller beteiligten Akteure die Aufwachsensbedingungen von Kindern Inhaftierter in Hamburg weiter verbessert werden können.”

Leitung der Landesfachstelle KvI Sven Zibell, Hamburger Kinder- und Jugendhilfe e.V.: “Die Inhaftierung eines Elternteils ist für die betroffenen Familienmitglieder ein belastendes Erlebnis. Insbesondere für Kinder ändert sich das bisher erlebte System Familie von einem auf den anderen Tag. Der nicht inhaftierte Elternteil bekommt nur selten Informationen darüber, an wen er sich in dieser Situation wenden kann oder findet im Internet nur wenig Angebote zur Unterstützung. Kinder, die von einem oder beiden Elternteilen getrennt sind, haben das Recht, regelmäßige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen zu pflegen, soweit dies nicht dem Wohl des Kindes widerspricht. Wenn dieses Recht durch die Inhaftierung eines Elternteils beeinträchtigt wird, bedarf es konkreter Unterstützungsangebote, um die negativen Folgen für das Kind so gering wie möglich zu halten.”

Gleichzeitig ist eine gesunde und stabile Vater-Kind-Beziehung auch wesentlich für die Resozialisierung der Inhaftierten und das Ziel, künftig ein straffreies Leben zu führen. Kinder können zwar Kontakt zum inhaftierten Elternteil aufnehmen, Besuche sind möglich. Solche Besuche sind aber aufgrund der limitierten Besuchszeiten und der oft erheblichen Reisekosten nicht immer möglich und werden auch nicht der kindlichen Spontanität gerecht. Eine gute Beziehung während der Haft aufrecht zu erhalten, ist damit sehr schwierig.

Das Vorhaben, die Versorgungstruktur für Kinder von Inhaftierten in Hamburg zu verbessern, ist Teil einer bundesweiten Bewegung. Sie geht zurück auf Empfehlungen des Europarates aus dem Jahre 2018. Im Hamburger Koalitionsvertrag wurde vereinbart, den Justizvollzug familienorientierter zu gestalten und dabei die Unterstützung von Kindern, deren Eltern im Vollzug sind, zu stärken, die Erziehungsfähigkeit inhaftierter Eltern zu fördern sowie bessere Kontaktmöglichkeiten für eine gute Eltern-Kind-Beziehung nach der Haftentlassung zu schaffen.